2022-12-16
Es erscheint wie die Rettung. Ein neues, unbeflecktes System kann uns von Twitter befreien, das Elon Musk gekauft und zerstört hat. Doch der Erlösungsgedanke ist übereilig.
Twitter hatte strukturelle Probleme, das war offensichtlich. Das eine waren die schwierigen Mechanismen, extremistische Positionen zu lenken, die von links wie von rechts über Twitter rollten, wobei die Rechten mehr von Hass und Schmutz und die Linken mehr von Cancel Culture und Shitstorm geprägt waren. Das andere war das Geschäftsmodell, das grundsätzlich, wie bei allen anderen auch, als werbebasiertes Model fragwürdig ist.
Twitter wird verschwinden oder sich marginalisieren, die Marke ist jetzt schon kaputt. Und Musk wird daraus eine Geschichte machen, dass er es war, der die Welt von einem schlechten System befreit hat.
Die wichtigere Frage ist, was aus Mastodon wird, oder aus anderen Alternativen. Mastodon scheint eine dezentralere Struktur und Aufsicht zu haben, die bisher recht gut funktioniert. Kleine Gruppen setzen sich selbst Regeln und überwachen diese, und niemand erreicht automatisch gleich die ganze Welt. Es ist mehr das Prinzip der Kneipe. Man darf rein, aber die Wirtin kann einen auch rausschmeißen, dann sucht man sich eine neue oder trollt sich davon. Was aber passiert, wenn hier Großgruppen entstehen, denen „man folgen muss“, wir wissen es nicht, aber erfahrungsgemäß finden Menschen mit Niedertracht in jedem System Wege, diese auszuleben.
Der entscheidende Konflikt liegt woanders. Der Erfolg der Sozialen Netzwerke liegt in der Einfachheit, Aufmerksamkeit zu erlangen oder sich als Teil einer Gruppe zu fühlen. Das befördert die einfachen, populistischen Auftritte. Reales Sozialleben ist sehr viel komplexer. Die unmittelbare Begegnung erfordert eine sehr viel intensivere Beziehungsarbeit, ein hartes Ringen um Anerkennung, Akzeptanz und Aufmerksamkeit. Doch dieses Ringen ist das entscheidende. Dazu gehört, sich ständig selbst zu hinterfragen, sich selbst in der Beziehung zu den anderen zu prüfen und seine Position zu korrigieren. Das ist harte, schmerzhafte Arbeit. Beleidigt sein, einen Shitstorm auslösen, andere beleidigen, zu Gewalt aufrufen, das sind in der realen Welt nur sehr extreme Alternativen, die anzuwenden sehr unangenehm ist.
Auch Mastodon unterliegt der Illusion, dass diese komplexe Beziehungsarbeit, die jeder Mensch leisten muss, um sich in der Gesellschaft zu entwickeln, einem digitalen Modell unterworfen werden könnte. Das wird ziemlich sicher nicht klappen. Das digitale Modell lebt davon, Dinge leicht zu machen, im Vergleich zur realen Welt. Doch das Gegenteil wäre die Antwort: in einer Welt, in der alles möglich ist, wäre es wichtig, die Dinge schwer zu machen. Damit man sich anstrengen muss. Das kann das Digitale nicht, auch wenn es es noch so sehr versucht. Zum schwer machen braucht es die Unberechenbarkeit und spontane Wandelbarkeit des menschlichen Umgangs mit Vertrauen.
Ich wünsche Mastodon viel Wettbewerb und ich wünsche den Twitter Usern, die sich jetzt empören und eine neue Plattform suchen, die Einsicht, dass soziale Beziehungsarbeit sehr viel mehr ist, als ein paar Mausklicks.
Diese Einsicht wäre schon einmal ziemlich innovativ.
Admin - 21:50:56 | Kommentar hinzufügen
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