/

 



Kultur und Wahrheit


In der Physik gibt es Wahrheit. Das bilden sich die Physiker zumindest gerne ein, obwohl sie wissen, dass dieser Wahrheit durch Urknall, Lichtgeschwindigkeit und Quantentheorie klare Grenzen gesetzt sind. Doch innerhalb dieser Grenzen ist die Physik verlässlich und erscheint daher als eine einzige, berechenbare und erforschbare Wahrheit.

Die belebte Natur ist da schon komplexer. Einfache Lebewesen verhalten sich zwar ebenfalls sehr berechenbar, doch neigen bereits sie zu Mutationen und Sprunghaftigkeit. Je komplexer sie werden, desto stärker wird dieser Effekt.


Und das hat einen Grund, denn Leben definiert sich ja gerade aus der Unberechenbarkeit, der Sprunghaftigkeit aus der es erst entstanden ist. Neurowissenschaftler verdrängen diese Eigenschaft und glauben, Verhalten berechenbar und damit Wahrhaftig machen zu können, ein Feld, auf dem ihnen für alle Zeiten Beschäftigung garantiert ist.

Völlig anders verhält es sich mit Kulturwesen. Kultur entsteht als kollektive Idee jenseits der Physik in den Köpfen von Wesen, nennen wir sie der Einfachheit halber Menschen, und erfindet Dinge wie Musik, Literatur, Rechtswesen, Ackerbau, Religion oder Wissenschaft. Die kollektive Idee ist dabei jedoch noch viel mutationsreicher und sprunghafter als die belebte Natur und so entsteht in jedem Kopf ein eigenes, anderen zwar oft ähnliches jedoch immer individuelles Universum aus Wahrnehmung und Wirklichkeit mit einer jeweils eigenen Wahrheit, die die individuellen Haltungen und Entscheidungen bestimmt.

Es ist ein Paradox der Wissenschaft, dass erst durch die Fähigkeit zur Wissenschaft die Situation entsteht, dass es keine eindeutige Wahrheit gibt. Doch dieses Paradox ist es, das das Leben erstens möglich macht und zweitens attraktiv. Denn gäbe es nur eine Wahrheit, gäbe es auch keine Innovationen und auch nicht wirklich viel zu forschen.

Es gibt eine tiefe menschliche Sehnsucht nach der einen Wahrheit. Sie liegt im Paradiesversprechen, das den Gleichmut der Wildtiere nachahmt und in den monotheistischen Religion mündet und sie liegt in der Wissenschafft, die in all ihrer Berechenbarkeit im Nutztier endet. Der Mensch als Kulturwesen ist keines von beidem und gezwungen, sich mit der pardoxhaften Widerborstigkeit auseinanderzusetzen, die die Vielfalt von Gedanken, Zielen, Träumen und Fähigkeiten der Menschen mit sich bringt, die sich immer wieder Neues ausdenken, nur um das Bestehende zu verändern, denn anders hielten sie es nicht aus.