2021-05-18
Ich habe am Wochenende ein Buch gelesen, das mein Urgroßvater im Jahr 1923 über den Versailler Vertrag und die junge Republik geschrieben hat. Er war bis 1918 Berater am Kaiserlichen Hof in Wien gewesen, ein gebildeter, verantwortlicher und durchaus in vielen Dingen moderner Mann, und entsetzt vom Chaos der jungen Republik. Er wetterte verzweifelt gegen den abgetretenen Kaiser Wilhelm, die Sozialdemokraten, die Amerikaner, die Nationalökonomen, die Parteien, gegen all die Vernunft, die die Menschen nur verrückt macht.
1923 war die Demokratie in Deutschland 5 Jahre alt und in echte Schwierigkeiten verstrickt. Erfahrungen, Ideen, Überzeugungen kollidierten aufs heftigste und waren noch viel weniger als heute durch historische Erfahrungen begründbar. Es gab das Kaiserreich, die französische Revolution, die Russische Revolution und Amerika als Referenzen politischer Experimente.
Das interessante aber war: alle Kritikpunkte am Parteiwesen, an den kleinlichen Machtkämpfen der Demokratie, am verzweifelten Versuch, eine rationale Formel für das Gute zu finden, an der Handlungsunfähigkeit einer Regierung, die zu Vielen Rechenschaft schuldig ist, sind exakt die gleichen, die wir heute erleben, wenn wir die Schwächen unseres Systems bejammern.
Das hat mich beflügelt. Denn es ist die Kritik, die einen dazu bringt, Dinge besser zu machen und wer glaubt, das perfekte System, gefunden zu haben, wird schneller scheitern als sie oder er schauen kann. Wir sind keine perfekten Demokraten, wir würden viel lieber unter einem gütigen Herrscher eine weise Ordnung erleben. Und gerade deshalb ist die Demokratie die beste Form. Weil wir immer wieder zweifeln, immer wieder erneuern müssen. Es geht gar nicht anders. Das ist Dauerinnovation.
Admin - 22:28:58
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