2023-11-25

„Ich höre“

Als ich 1989 das erste Mal in der damaligen Sowjetunion reiste, hatte ich eine zwiespältige Wahrnehmung von Fortschritt. Ein junger Brite schwärmte mit im Zug von der Fortschrittlichkeit der UDSSR vor und zitierte das Beispiel der Wasserhähne. Die Russen hatten selbstverständlich Mischbatterien für kaltes und warmes Wasser, während die Briten heute immer noch links am Wachbecken kaltes und rechts warmes Wasser haben und sich entweder die Finger abfrieren oder verbrennen, wenn sie sich die Hände waschen.

Die zweite Erfahrung war das Telefonieren. Während wir in Westeuropa solide Telefone besaßen, die funktionierten, hatten sie in der UDSSR windige Plastikteile, die wie Telefone in Auflösung wirkten, und der größte Teil des Gespräches ging jeweils dafür drauf, gegenseitig „Ich höre“ in den Hörer zu brüllen und zu warten, bis eine funktionierende Verbindung bestünde, die dann irgendwann kam oder auch nicht.

Das ging mir in letzter Zeit immer wieder durch den Kopf, wenn ich wieder in Telefonkonferenzen saß und diverse Teilnehmer verzweifelt versuchten ihre Audio Funktion in Gang zu bringen oder ihre Kamera einzuschalten, aber immer von irgendwelchen unbekannten Systemabängigkeiten ausgebremst wurden. Dabei fiel mit dann auf, dass unsere Telefone sich inzwischen völlig aufgelöst haben.

Die Erkenntnis lag nahe: die UDSSR war damals wirklich viel fortschrittlicher, als wir es damals waren. Ihr Audio-Funktion ging damals schon nicht und ihre Telefone lösten sich bereits auf, als unsere noch solide am Tisch standen.
Ob das tatsächlich so ist, überlasse ich dem Urteil anderer. Was ich eigentlich meine, ist die Messgröße von Fortschritt. Wir waren lange Forschritts-Junkies, alles musste neu sein, irgendwie Hipp und Hauptsache Digital. Inzwischen stehen wir vor einem zusammengeschütteten riesigen Haufen von Innovationen und wundern uns, dass die Dinge nicht recht zusammenpassen.
Selbst die Industrie erkennt, dass gerade „schneller“, „weiter“ und „höher“ weniger die Messgrößen sind als Robustheit und Lieferfähigkeit. Den Laden am Laufen halten ist das oberste Gebot.

Ich finde das Beruhigend. Jetzt müssen wir nur noch die Konsequenzen daraus ziehen und anfangen, den großen Haufen zu sortieren, zu sichten, was wir brauchen, dass der Laden in den Rahmenbedingungen, die wir absehen können, läuft, was wir vielleicht später mal brauchen und beherrschen sollten und was wir nicht brauchen. Damit werden wir eine Weile beschäftigt sein, doch wir werden sehen, auch das ist innovativ.

Admin - 21:39:08 | Kommentar hinzufügen