2023-10-01
Ich war dieses Jahr nicht dort und werde wohl auch nicht mehr gehen, und doch ist es präsent als Münchner.
Das Oktoberfest ist ein Sinnbild für Tradition und doch ist es das Gegenteil davon. Das Oktoberfest ist ein Nationalrausch, ein Fest der Extreme, ein gigantisches jährliches Sozialexperiment: wie weit kann eine Gesellschaft gehen, in all ihren Widersprüchen und Abgründen, und doch in einer gigantischen Party zusammenhalten.
Das Oktoberfest hat alles. Es ist zutiefst sozial und doch extrem arrogant. Es ist ein Politikum und doch frei von Politik. Es ist zutiefst menschlich und doch äußerst professionell organisiert, es lässt sehr viel zu und ist doch streng geregelt und auch kontrolliert. Es ist freizügig bis weit über die Schamgrenze und erreicht gerade dadurch Gleichwertigkeit.
Ein Zelt, in dem Zehntausende sich in einen kollektiven Rausch bewegen, muss erst einmal beherrscht werden. Wirte, Bedienungen, Musiker, sie sind die Dirigenten einer Herde, in der das Leben so brodelt wie kaum jemals sonst. Und das ist das Besondere. Das Brodeln ist erlaubt, darf an seine Grenzen gehen, darf sie spüren und genießen, und muss sie doch am Ende immer wieder erkennen. Das ist manchmal peinlich, manchmal auch erschütternd, doch wirklich nur selten wirklich gefährlich. Der Vorteil überwiegt: die Vernunft ist für einen Tag überwunden und durch die Leidenschaft glanzvoll ersetzt.
Bayern wird immer als anders gesehen. Seltsam barock und irgendwie fern von Vernunft. Das Oktoberfest steht für das Bild. Es ist das Soziale, das hier gefeiert wird, in all seiner Mächtigkeit. Das Fest gehört dem Volk. Es wurde ihm vom Fürsten geschenkt und das Volk hat es sich, nach hundert Jahren der Übung, gegriffen. Nun ist es die jährlich wiederkehrende Innovation. Das Oktoberfest lässt keinen Stillstand zu und es ist andererseits extrem feinfühlig für Veränderung. Was hier besteht, hat Qualität.
Das macht es so speziell. Es ist nicht planbar, es ist nicht skalierbar, es ist ein Labor im ganz großen Stil, ein soziales Experiment.
Admin - 22:31:41 | Kommentar hinzufügen